Gegenübertragung – Übung 1
Der Kunde entwickelt auf dem Hintergrund seiner historischen Erfahrungen eine Rollendefinition vom Berater, die dieser dann innerlich als Rollenangebot bzw. als Gegenübertragung erlebt. Übertragungen des Kunden lassen sich vom Berater also überhaupt nur dann erfassen, wenn er diese Rollenzuweisung bzw. Gegenübertragung wahrzunehmen bereit ist und dann bewußt beobachtend und reflektierend auf den Kunden zurückbezieht.
Aus dieser Perspektive sind Gegenübertragungen „normale Reaktionen auf Übertragungen und damit Bestandteil des Verstehens und Erklärens“. Bei Berater:innen ermitteln wir drei Faktorengruppen von Gegenübertragung:
a. Sie besteht zunächst in einfühlendem Verstehen. Ohne diesen Aspekt von Gegenübertragung kann der Berater Übertragungen des Klienten gar nicht erfassen. Er muß zumindest partiell die ihm zugeschriebene Rollenerwartung des Klienten gefühlsmäßig aufnehmen, um sie rückbezüglich verstehen zu können.
Beispiel 1.: Eine Kundin eröffnete zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit jede Beratungsstunde mit einer Gestik und Mimik, die ängstliche Abweisung signalisierten. Ich ließ diesen Eindruck auf mich wirken und bemerkte in mir eine „Gefühlsmischung“ von „Genervtsein“, „Geben-Wollen“, „Ohnmacht“ und „Wut.“ Damit gab mir die Kundin Hinweise, daß sie solche Gefühle von unmittelbaren Bezugspersonen gewohnt war. Da sich diese Gefühle bei mir als weiblichem Gegenüber einstellten, bildete ich die Hypothese, daß sie mit ihrer Haltung und der in mir erzeugten Gegenübertragungsbereitschaften ihre Mutter-Beziehung reinszenierte. Im weiteren Verlauf unserer Arbeit stellte sich tatsächlich auch heraus, daß die Beziehung zu ihrer Mutter hochgradig ambivalent war und sie bei ihrer Mutter als „Bestrafung“ ähnliche Gefühle erzeugt hatte.
b. Gegenübertragung besteht aber auch in einfachen emotionalen Reaktionen auf den Kunden. Das sind gefühlsmäßige Anteile des Beraters, die der Kunde als Mensch in ihm wie selbstverständlich aktiviert.
Beispiel 2.: Die im Beispiel 1. beschriebenen Gefühle agierte ich allerdings nicht aus. Die Beziehungsgeschichte der Kundin zu ihrer Mutter erzeugte in mir vielmehr herzliches Mitgefühl, daß Nähe und Wärme zwischen Mutter und Tochter hier so „verbaut“ waren. Dieses herzliche Mitgefühl trug die gemeinsame Arbeit, so daß es der Kundin zunehmend gelang, zu mir Vertrauen zu fassen, während ihre ursprüngliche Übertragungshaltung unseren Dialog sehr erschwerte.
c. Den dritten und problematischsten Teil von Gegenübertragungen bildet die Beziehungsmuster des Beraters. In diesen Zusammenhang gehören gewohnheitsmäßige, persönlichkeitsspezifische Gefühlsreaktionen des Beraters auf bestimmte Kunden bzw. Kundengruppen. Sie werden von ihm selbst nicht wahrgenommen und sind im Prinzip „als normale menschliche Reaktionen zu begreifen“. Sie können sich bei professionellen Handlungsprozessen aber störend auswirken.
Übungsaufgabe 1: Stell Dir vor, die Beraterin in Beispiel 1. und 2. hätte als Tochter eine ähnlich trotzige Haltung gegenüber ihrer Mutter eingenommen und die Relation zu ihrer eigenen Mutter noch nicht ausreichend verarbeitet. Wie hätte sie dann agiert?
Bitte diskutiert das in Eurer Lerngruppe. Ihr habt 30 Min. Zeit.