Familiensystemisch arbeiten, im Arbeitskontext von Jobcentern, Betreutem Wohnen und Suchthilfe – wozu?

Ich schicke drei kurze Begriffsklärungen voraus: mit „Heimatsystem“ ist jene Familie (Wohngemeinschaft etc.) gemeint, in der man zur Zeit lebt. „Herkunftsfamilie“ bezeichnet jene Familie, aus der ich stamme und in der ich aufgewachsen bin. Bei bestimmten Klienten sind Heimatsystem und Herkunftsfamilie identisch, z. B. ein junger Erwachsener, der noch im Elternhaus lebt.

Als „Abwesende“ bezeichnen wir jene Menschen, die bei einer Einzelberatung oder -betreuung nicht beteiligt werden oder sind.

Ich erinnere an das Systemspiel: Blog-Seminar 7. Einheit :: Systemtheorie. In Beratung und Betreuung hat unser Klient/Kunde es mit mindestens 2 Beziehungssystemen zu tun: dem Heimatsystem und dem Hilfesystem*, also uns. Diese beiden Systeme müssen dafür sorgen, daß sie kooperieren. Tun sie das nicht, bringen wir als Hilfesystem den Klienten in zusätzliche Schwierigkeiten.


* Befindet sich der Klient in mehreren Hilfesystemen, die oftmals nicht miteinander kommunizieren, sollten zumindest wir dafür sorgen, daß es zu einem Austausch und einer Kooperation der Helfer untereinander kommt. Aber das ist ein weiteres Thema, auf das wir sicher noch zu sprechen kommen: Stichwort Hilfeplan- und Helferkonferenzen.


Ich empfehle 2 Vorgehensweisen, die unterschiedliche Klienten-Kunden-Gruppen betreffen:

1) Wenn Du noch nicht familiensystemisch aufgestellt bist und arbeitest, dann wird das für die bisherigen Klienten in der Einzelbetreuung, etwas Neues sein, Angehörige zu beteiligen. Lade zunächst die Partner (Heimatsystem) oder die Eltern (Heimatsystem=Herkunftsfamilie) mit ein.
Begründung: Wenn es gut läuft zwischen Euch²: „Ich möchte Ihrer Familie / Partner*in gerne zeigen, was Sie schon alles geschafft haben. Das sollte gewürdigt werden!“ so oder so ähnlich.
Wenn es nicht so gut zwischen Euch läuft, braucht Ihr Partner*in bzw. Eltern als Kooperationspartner und müßt Euch vergewissern, daß Ihr nicht gegeneinander arbeitet: „Ich würde Ihre ‚Lieben‘ gerne kennenlernen und in Erfahrung bringen, was die von unserer Zusammenarbeit halten oder wie die uns beide unterstützen können.“ Wichtig ist die Fokussierung auf „wir“ und „uns“.
Ist schon klar, daß auch andere Formulierungen nützlich und wirksam sein können, aber ich vermute, es ist deutlich geworden, worauf ich abziele: Kooperation herstellen und entwickeln.


² Ein Spruch von Haim Omer ist: „Schmiede das Eisen, solange es kalt ist!“ d. h. es ist viel einfacher, Paar- oder Familiengespräche in entspannten Beratungen zu üben und sich an diese Arbeitsform heranzutasten und zu gewöhnen, als wenn es um dysfunktionale und konfliktgeladene Systeme geht.


2) Du beginnst mit neuen Klienten eine Beratung/Betreuung: Mach es zu Deinem Standard, die Abwesenden ab dem 2. Klientenkontakt miteinzubeziehen. Lerne sie und ihre ganz eigenen Konstruktionen von Wirklichkeiten kennen, die sich oft von denen der eigentlichen Klienten unterscheiden. Werbe um Kooperation. Beteilige sie an der Auftragsklärung. Sie müssen in der Folge nicht an jedem Beratungskontakt anwesend und beteiligt sein, aber sie können mitarbeiten, wenn sie denn möchten und es zeitlich ermöglichen.
Wenn Du so an die Beratungsverläufe herangehst, wirst Du erfahren, daß vieles klarer und einfacher zu entwickeln ist. Die Möglichkeiten und Kräfte lassen sich potenzieren. Divergenzen, Konflikte und Widerstände lassen sich schneller und einfacher klären. Man muß als Berater*in kaum noch zurückrudern. Und wir als Berater*innen bekommen sogar vielfältigere positive Rückmeldungen. Das familiensystemische Arbeiten macht also, wenn man es geübt hat, sogar mehr Spaß und Freude als die ausschließliche Arbeit mit Einzelnen.

Ich wiederhole daher aus der 7. Einheit :: Systemtheorie den

Merksatz 4: Rechne in Beratung, Betreuung und Therapie immer mit den Abwesenden.

Wenn wir einen einzelnen Klienten (Kunden) beraten, betreuen, und dieser befindet sich in einer alltäglichen Kommunikation mit seinem sozialen System und wir kennen die dortige Kommunikation (z. B. Beziehungsmuster) nicht, gehen wir verschiedene Risiken ein:

  • Verhalten ist kontextabhängig, -gebunden. In unserem Kontext wird sich ein Klient anders zeigen, verhalten, fühlen, denken als woanders, z. B. im Heimatsystem.
  • Wenn wir mit dem Klienten in eine bestimmte Richtung arbeiten, können wir nicht wissen, in welche Richtung sein soziales System gehen will. Im schlimmsten Fall „zerreist“ es den Klienten zwischen unterschiedlichen Systeminteressen, d. h. wir bringen ihn zusätzlich zu seinen bisherigen Problemlagen möglicherweise in weitere Schwierigkeiten.
  • Wenn wir den Klienten im besten Fall 1x pro Woche für x Minuten sehen, er jedoch an 7 Tagen die Woche „24 h“ im Heimatsystem kommuniziert, wie können wir dann annehmen, daß unsere Kommunikation mit dem Klienten Wirkung zeigen könnte?

Übrigens: Ich habe über 30 Jahre lang familiensystemisch gearbeitet. Meine Erfahrung ist, je selbstverständlicher wir Angehörige beteiligen, desto selbstverständlicher finden es auch die Klient*innen und Kund*innen.