Praxis diagnostischer Einschätzung – Arbeit mit Genogrammen II
Die Arbeit mit Genogrammen ist ein wichtiges Diagnostikmittel in der Einzel-, Paar- und Familienarbeit.
Wir gehen davon aus, daß die Herkunftsfamilien über Generationen hinweg Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen haben kann.
Bedeutung für Sozialisationen haben Rollenverständnis und Rollenverhalten, Umgang mit Religion, Politik, Geld, Krankheiten, Tod, Geschwisterkonstellationen etc.
In der konkreten Arbeit bitten wir die Klienten, Daten und Geschichten ihrer Eltern und Großeltern zu sammeln. Wichtig sind:
Daten, also: Geburt, Tod, Eheschließung, Geburt der Kinder (auch Fehlgeburten und Abtreibungen). Abstände der Geburtstage der Kinder, (geringe zeitliche Abstände deuten meist auf viel Streß aller Beteiligten hin und auf ein Gefühl des Zukurzgekommenseins). Geschlechterverteilung der Kinder (nach drei Mädchen der erste Sohn zu sein, ist etwas anderes, als das vierte Mädchen zu sein) Umzüge. Scheidungen, andere partnerschaftliche Beziehungen, Krankheiten. Suchterkrankungen, etc.
Beschreibungen: was war die Mutter für ein Mensch, wie kannst du sie beschreiben. Berufe, Charaktereigenschaften, Talente, wie hast du den Vater als Vater erlebt, wie war die Ehe deiner Eltern, wie haben sie sich kennengelernt, gab es vorher bereits große Lieben, was weißt du über ihre Sexualität, was ist aus deinen Geschwistern geworden, welches Verhältnis hattest du und hast du heute zu ihnen, welche Familie steht dir emotional näher: die von Mutter oder Vater …
Geschichten – Narrationen: welche Geschichten gibt es von welchem Familienmitglied, sind das offene oder eher geheimere Geschichten, wird und wenn ja wie über Verstorbene gesprochen, was sind überhaupt Familienthemen und über was spricht man eher ungern oder überhaupt nicht, gibt es über manche Menschen in der Familie überhaupt keine Geschichten (z.B. über schwarze Schafe) etc.
Das Genogramm wird mit dem Klienten gemeinsam aufgezeichnet und wird durch die o. g. Fragen lebendig. Für Klienten mit belastender Lebensgeschichte kann diese Arbeit sehr emotional sein. Arbeit heißt, den Klienten bei dieser Gefühlsarbeit zu begleiten. Anhand des Genogrammes kann nicht nur eine Anamnese und Diagnostik erfolgen, auch bestimmte Fragestellungen von Klienten können beantwortet werden, wenn diese ihre Geschichte begreifen, z. B. wozu haben alle meine männlichen Beziehungen eine Suchtproblematik; wieso habe ich ein schlechte Gewissen, wenn es mir gut gehen könnte; warum habe ich Angstzustände, seit mein Vater Tod ist … aber Vorsicht:
Merke: Sei Dir als Berater bei der Arbeit mit einem Genogramm bewußt, ob Du es als Erforschungsinstrument benutzt, um die familiären und verwandschaftlichen Beziehungen zu einem bestimmten Zeitpunkt ! kennen- und verstehen zu lernen oder ab wann Du mit Deinem Klienten wechselst zur Genogrammarbeit als Veränderungsinstrument, denn das will gelernt und gekonnt sein!
Die Arbeit mit einem Genogramm beantwortet Fragen meist erst einmal auf der kognitiven Ebene. Die emotionale Verarbeitung des Erfahrenen ist dann ein zweiter Schritt. In der Arbeit mit Paaren ist Genogrammarbeit fast unerläßlich, denn den Partnern kann so deutlich werden, welche Beziehungsmuster, Aufträge. Modelle jeder mitbringt und wo sich diese Modelle gegenseitig widersprechen oder hilfreich unterstützen. Hat z.B. der Mann gelernt, in seiner Familie jeden Konflikt zu thematisieren und auszudiskutieren, die Frau jedoch gelernt, daß man über Konflikte nicht spricht, wird es für beide eher komplex werden, eine gemeinsame Konfliktstrategie zu entwickeln. Von Bedeutung ist auch, ob die Partner in der anderen Familie willkommen waren oder nicht (erste Besuche bei den gegenseitigen Herkunftsfamilien können Beziehungen bereits verändern).
Je geübter man in der Genogrammarbeit wird, desto mehr werden einem die Wiederholung bestimmter, gerade auch gestörter, Beziehungsmuster auffallen, z. B. bei Suchtsystemen, psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen.
In der Arbeit mit Genogrammen kann es auch zur Hypothesenbildung über die Systeme kommen, die entweder der Familie direkt mitgeteilt werden können und damit vielleicht Sichtweisen verändern können oder aber erst einmal nur bei den Beraterinnen verbleiben und zu einem späteren, passenden Zeitpunkt veröffentlicht werden. Bei manchen, eher belastenden Hypothesen, sollten Beraterinnen sehr genau überprüfen, ob und wann ein Bewußtmachen dem weiterführenden Prozeß wirklich dienlich sein könnte.
Neue Entwicklungen zu Geschichten und Narrationen
Vor der Zeit des Internets betraf nur sogenannte Personen des öffentlichen Lebens das Risiko, daß deren Geschichten von narrativen Wendungen bis hin zu Verfälschungen betroffen waren.
Seitdem es mit dem Internet die sozialen Medien und Netzwerke gibt, ist nun jede/r der oder die sich daran beteiligt (ja selbst jene, die keine Nutzer sind), diesem Risiko ausgesetzt, daß die selbst erlebten und erzählten Geschichten – Text wie Bild –, durch andere verändert werden, z. T. bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Darüber hinaus werden sogar ganz neue Narrationen generiert, die mit dem selbst Erlebten nichts zu tun haben.
Diesem Risiko kann aber durchaus ein nützlicher Effekt entgegenstehen:
Wenn jemand unter Narrationen, die die eigene Person oder Familie betreffen – Text wie Bild – leidet, können „verschönernde“ Narrationen – Text wie Bild – oder Selektionen (nur das Gute, Schöne und Positive wird in die Welt hinaus erzählt) die leidvollen und negativen Narrationen relativieren oder sogar tilgen.
Ein Beispiel:
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