Der Briefkastenmann (0)

In der Suchthilfe hatte ich einen 35 jährigen alleinstehenden substituierten Mann in der PSB. Er wohnte in einem Appartementhaus im 5. Stockwerk nur 5 Minuten von der Beratungsstelle entfernt.

Zunächst standen in der Betreuung die Substitutionsaspekte im Vordergrund. Nach einige Terminen druckste der Klient herum. Ich merkte, er wollte etwas loswerden. „Herr Stratmann, da ist noch so ein Problem.“ Er schilderte, daß er sich nicht mehr traue, in seinen Briefkasten zu schauen. Es stünden einige Briefe mit sehr unangenehmem Inhalt ins Haus: Strafsachen. Unterhaltsklagen. Gläubigerpost. etc. Er gehe jedesmal mit „Panik“ an den Postkästen im Eingangsbereich vorbei. Er schaffe es einfach nicht, seinen Kasten zu öffnen. Wir wogen seine „Panik“ mit seiner Motivation ab „Aber irgendwann muß ich sowieso an die Post ran.“ Rationale Erwägungen halfen nicht. Ich würdigte seine berechtige Angst vor der unangenehm drohenden Post, sagte aber zu, (Priming->) es fiele mir schon was ein (siehe weiter unten) (ES = passive Form mit Andeutung eines unwillkürlichen Vorganges), was „in Gang kommen“ könne. (Der Gang zum Kasten.)

Beim nächsten Termin sagte ich, mir sei da etwas Interessantes eingefallen (Aufbau eines Spannungsbogens), aber er müsse mir vorher einen Gefallen tun: Ich würde um seine Erlaubnis bitten (Kooperation), mein Team informieren zu dürfen, daß er demnächst unangemeldet vorbeikäme, um Post für mich abgeben zu können, die mir umgehend ausgehändigt werden müsse. (verwirrender Schachtelsatz mit ein wenig kognitiver Überladung) (1) Er sagte ohne zu zögern zu, gespannt auf das „Interessante“. Ich erhöhte den Spannungsbogen noch etwas: (JA => Yes Set, kommt in einem späteren Blogbeitrag)

Ich: Ja, also, es ist angesichts Ihrer Panik schon etwas aufwändig (Würdigung) … Pause ..
Er: Ja, was denn???
Ich: Na ja, wir haben ja für die PSB ja pro Woche so 45 Min. zur Verfügung … Pause …
Er: Ja, ich weiß, und???
Ich: Na ja, wir müßten das, was mir eingefallen ist, ja auf 3 Termine aufteilen, 3mal 15 Minuten.
Er seufzt hörbar als fiele eine Last von seinen Schultern: Ach so, Ja dann … kein Problem.
Ich: Ja Problem ist gut (leichte kognitive Dissonanz) – wir beide werden was üben und ich sage Ihnen, wenn Sie mitmachen, das wird nicht nur beim Briefkastenöffnen helfen (unbewußte Mitteilung: das ist ein Alltagsproblem unter vielen), … kleine Pause, um Spannung zu erzeugen … sondern Sie werden das auch noch in ganz anderen Lebenslagen anwenden können. (Ablenkung auf Anderes und zuversichtliches Priming für umfassendere Bewältigungsstrategien in der Zukunft)

Ich erklärte ihm, was Imaginationsübungen sein können, worauf er sich erwartungsgemäß skeptisch zeigte. Ich ruderte zurück, gab ihm Raum fürs Überdenken (er spürt, daß er Kontrolle übernehmen kann) und neue Entscheidungsmöglichkeit, zeigte mich gleichwohl zuversichtlich. Er sagte endgültig zu, mir zu vertrauen, daß mit „schon das Richtige einfallen“ werde. (er übernimmt bereits meinen Sprachmodus und Sprache formt das Denken, oder?!)

Fortan kam er Montag, Mittwoch und Freitag immer um 11.45 für 15 Minuten zu mir. Er setzte sich und ich bat ihn, mir zu beschreiben, wo sich zu Hause der Briefkastenschlüssel befände. Sein Blick ging nach innen -> Suchprozeß. Er habe ein Schlüsselbrett neben der Tür zum Treppenhaus. Nun ließ ich ihn den Schlüssel beschreiben, wie lang, wie dünn, was für ein Bart, was für ein Griffstück, Kerben im Metall – Er: keine Ahnung?! Hausaufgabe: Schlüssel untersuchen. 15 Minuten vorbei. Er schaute mich zwischen fragend und ungläubig an, so „Wie, das war alles?“ Ich: Oh. Oh. (Interjektion) Ich kann mir denken, was Sie denken. (Nicht: Ich kann hellsehen, sondern mit der Haltung: Wir kooperieren und sind jetzt gerade im Rapport (2)!) Ich: Nein, nein. (Musterunterbrechnung) (kurze Pause) Wir haben 3 mal 15 Minuten und ein paar Wochen vor uns. Harte Arbeit. (Würdigung) Und (3) Sie werden sehen wie sich das lohnt. (Eine Verknüpfung aus 2 Sätzen „Sie werden das schon sehen/erfahren/merken.“ und „Es wird sich lohnen.“)

Beim 2. Termin berichtet er weiter imaginativ über den Schlüssel. Wir wechselten zur Wohnungstüre. Ich ließ sie umfassend beschreiben. Sehen. Fühlen. Hören. Riechen. Ich ließ ihn die Türe von innen öffnen und schließen. Öffnen und schließen. Öffnen und Schließen. Ich ließ ihn die Türe vom Treppenhaus öffnen und schließen. Öffnen und schließen. Öffnen und Schließen. (Suggestion, die Kontrolle über das Handeln zu haben) Ich ließ durchgehen und wieder zurück. Alles im Wachzustand mit geöffneten Augen, die aber auf intensive Suchtprozesse gingen.

Parallel zu seinen Imaginationen der Türe übten wir gleichzeitig das Imaginieren an sich: rein in eine Imagination und wieder heraus und so fort.

Im weiteren Verlauf, Termin für Termin, ließ ich ihn kleinschrittig imaginieren (mittlerweile brauchte er mir das nicht mehr erzählen, sondern es reichte, daß er sich das vorstellte – ich sah ja wie er immer wieder in leichte Trance ging. Ab und zu gab er mir eine Info oder ich fragte nach, wo wir uns gerade befanden und was er erlebte), das Treppenhaus zu erkunden. Sehen. Fühlen. Hören. Riechen. Treppenstufe für Treppenstufe hinunter und wieder hinaufzugehen. Treppenabsatz, Stockwerk für Stockwerk. Von Termin zu Termin. Bis wir nach X-Terminen imaginativ vor der Wand im Eingangsbereich standen, in die die Metallbriefkästen eingelassen waren. Schlüssel in den Kasten stecken. Sehen. Fühlen. Hören. Umdrehen. Sehen. Fühlen. Hören. Nicht öffnen. Erst wieder nach oben in die Wohnung gehen. (Kontrolle übernehmen und behalten) Imaginativ den leeren Briefkasten öffnen. Sehen. Fühlen. Hören. Riechen. Schließen. Zurück in die Wohnung.

Es gab einen guten Zeitpunkt für eine Pause, denn es war vor Weihnachten, Zeit für die Statistik, Jahresabschluß und Jahresbericht. Ich sagte ihm, ich sei da, auch ansprechbar, müsse aber diese „leidigen“ Aufgaben erledigen, damit es im nächsten Jahr gut weitergehen könne. Ein unbewußte Anspielung auf Unangenehmes und das Leben geht weiter. (Erst die Arbeit und dann das Vergnügen. Volksmund) Er zeigte Verständnis für mich und damit indirekt auch für sich. Ich sagte ihm, er solle auch wirklich eine Pause machen von unserer Zusammenarbeit (Kooperation ist das Thema.). Die Amtsgeschäfte ruhten über die Feiertage sowieso. Sogar die Finanzämter hätten ab 17.12. den Weihnachtsfrieden ausgerufen. Das wirkte plausibel. Wir vereinbarten einen Termin.

Er kam im neuen Jahr mit einem kleinen ! Stapel Briefpost zum vereinbarten Termin und strahlte verhalten aber verschmitzt: Er habe sich eines Tages vor dem Briefkasten „ertappt“ mit diesem Stapel Briefen. Er wisse nicht, wie er den Schlüssel vom Brett genommen und dort hingekommen sei. (ES ist ihn gegangen! UNWILLKÜRLICH) Dann habe er sich gedacht, na ja, der Stratmann hat sich seine Feiertage verdient! Er würdigt meine Arbeit. Ich war gerührt.

Er habe jetzt aber grade Herzklopfen, weil wir doch jetzt gleich die Briefe öffnen würden und er befürchte, was da (zum Vorschein) kommen werde, aber ich sei ja bei ihm und mir werde schon etwas einfallen. So war es dann auch.

Jetzt meine Frage an Dich: Wann gehst Du eigentlich ganz bewußt und willkürlich zum Briefkasten oder machen wir alle das nicht fast immer unwillkürlich?!


(0) Ich habe diese Geschichte schon in vielen Kursen erzählt, aber jetzt zum ersten Mal aufgeschrieben.

(1) Er sollte nicht in die angststeigernde Verlegenheit kommen müssen, die Post alleine zu öffnen, sondern an mich weitergeben zu können. Die Konnotation „umgehend ausgehändigt werden“ sollte unbewußt signalisieren, daß ich mich vor „Dringlichkeit“ nicht fürchte.

(2) Rapport: kommt noch im späteren Beitrag.

(3) Und bedeutet hier Kooperation zwischen dem leidvollen Erleben der Vergangenheit und dem Möglichen in der Zukunft.

Der nächste Beitrag mit dem 2. Praxisbeispiel heißt Die Tränenfrau.