1) Die Klärung des Erstgespräches bzw. Überweisungskontextes

Die Beziehung zwischen dem Interviewer und dem oder den In­terviewten beginnt nicht erst, wenn sie sich zum ersten Mal ge­genübertreten. Der Klient/Kunde und die Familienmitglieder haben be­reits lange Zeit vorher Vorstellungen darüber entwickelt, was in solch einem Gespräch im besten oder schlechtesten Fall geschehen könnte. Sie haben Ideen darüber, welche Zielsetzung der Inter­viewer als Person oder Repräsentant einer Institution, über die sie Vorinformationen haben, verfolgt. Stimmen diese Zielsetzungen mit denen der einzelnen Familienmitglieder überein? Gibt es Konflikte im Blick auf die Zwecke und Ziele des Interviews? Wer hat was über den Interviewer/die Institution gehört? Wer hat was erzählt? Welche Beziehungen bestehen zwischen dem Überwei­ser, den Familienmitgliedern und dem Interviewer? Der Kontext bestimmt stets die Bedeutung eines Textes, auch eines im Verlaufe eines Interviews gesprochenen Textes. Kein Interviewer weiß, wer er für die Interviewten ist, wenn er nicht sorgfältig den Kontext seines eigenen Sprechens und Handelns klärt.

Wie haben Sie von mir/uns gehört?
Wer hatte die Idee, hierher zu kommen?
Wer war eher skeptisch?
Was hat der Über­weiser Ihnen erzählt, was hier geschehen soll?
Wenn das Gespräch optimal verliefe, woran würden Sie es merken?
Wenn ich wollte, daß das Gespräch ein totaler Mißerfolg wird, was müßte ich als Interviewer tun oder fragen oder sagen?

2) Die Verdeutlichung der Merkmale von Unterscheidungen und Identifizierungen

Wird irgendein Begriff zur Beschreibung einer Situation oder ei­nes Zustands (z. B. eines Problems) verwendet, so kann seine Be­deutung am ehesten dadurch geklärt werden, daß nach der Bedeu­tung seiner Negation (der anderen Seite der Unterscheidung) ge­fragt wird. Woran wäre ein Zustand etc. zu erkennen, welcher durch die Negation dieser Bedeutung gekennzeichnet werden könnte? Welches ist das Merkmal der Unterscheidung, das den einen Fall vom anderen unterscheidet?

Woran merken Sie, daß Sie nicht depressiv sind?
Was machen Sie dann anders?

Woran merken, ob eine Arbeitsstelle zu Ihnen paßt?
Wenn Sie passen würde, was machten Sie dann anders als sonst? 

3) Die »Verflüssigung« von Eigenschaften

Individuelle, statische »Eigenschaften« sind aus individuellem, wiederholten Verhalten abstrahierte Zuschreibungen und Verding­lichungen. Es gilt, sie durch die Art des Fragens zu »verflüssigen«, das heißt, sie wieder in Verhaltensdimensionen zurückzuüberset­zen.

Welche Verhaltensweisen muß der Vater zeigen, damit die Mutter zu dem Schluß kommt, er sei wieder depressiv?

Welche Verhaltensweisen müßte Mutter zeigen, um Vater bei der Arbeitsuafnahme zu unterstützen? 

4) Die Rekontextualisierung

Verhaltensweisen wird kontextabhängig eine unterschiedliche Be­deutung zugeschrieben. Die Absolutheit vermeintlicher Eigen­schaften kann dadurch in Frage gestellt werden, daß sie – bzw. das Verhalten, das sie repräsentieren – in ihren interaktionellen Kon­text gestellt werden. Dazu gehören Fragen zum interaktionellen Effekt des Verhaltens: Was geschieht, wenn ein bestimmtes (z. B. als Problem angesehenes) Verhalten gezeigt wird? In welchen Si­tuationen wird es wie stark gezeigt? Wer ist dabei? Wer reagiert wie? Wie ist die zeitliche Sequenz?

Was machen andere, die Mutter, der Sohn, die Tochter etc., wenn der Vater weint?

Verhält er sich anders, wenn Mutter und Tochter da sind, als wenn nur die Mutter da ist?

Wie verhält er sich, wenn die Mutter nicht da ist?

5) Verdeutlichung des gegenseitigen Bedingens durch Doppelbeschreibung

Durch die Form der Fragestellung wird eine rekursive (d. h. zir­kuläre, gegenseitige) Bedingtheit des individuellen Verhaltens vor­ausgesetzt bzw. die gegenseitige Bedingtheit im einzelnen konkret erfragt. Jeder der Teilnehmer wird als Handelnder vorausgesetzt, wodurch die Täter- und Opferrollen mitsamt ihrer geradlinig­kausalen Prämissen in Frage gestellt werden.

Frage an den Ehemann: »Gesetzt den Fall, Sie wollten, daß Ihre Frau Sie bei der Arbeitsaufnahme unterstützt. Wie müßten Sie sich verhalten?«

Fragen an die Ehefrau: »Gesetzt den Fall, Sie wollten, daß ihr Mann sich auf eine Arbeitsaufnahme freut, um ganz entspannt arbeiten zu gehen. Wie müßten Sie sich verhalten?«

6) Einführung einer zeitlichen Dimension

Die Relativierung von Statik und Verdinglichung durch die Ein­führung einer geschichtlichen, zeitlichen Perspektive. Es werden Änderungen in der Vergangenheit ebenso abgefragt wie mögliche Änderungen in der Zukunft.

zur Vergangenheit:  Wann hat die Mutter begonnen, ihre Fähigkeiten, sich durchzusetzen, nicht mehr zu nutzen?

zur Zukunft:  Wie lange wird die Tochter noch darauf verzichten, ihr eigenes Leben zu leben und bei den Eltern zu Hause wohnen bleiben?

7) Klärung von Beziehungsmustern

Welches sind gegenwärtige Koalitionen und Subsysteme (Wer macht mit wem was wann …? Wer macht mit wem was wann nicht …? Welche Personen haben übereinstimmende/gegensätz­liche Verhaltensziele?).

a) Einführung der Außenperspektive durch triadische Fragen: Eine Person wird jeweils über die Beziehung zweier oder mehre­rer anderer befragt.

Fragen an die Tochter:
Wie siehst du die Beziehung zwischen deinem Bruder und deiner Mutter?
Wie siehst du die Beziehung zwischen den Eltern und dem Bruder?«

b) Hierarchisierung durch Rangfolgen: Einstufung der Intensität, in der verschiedene Familienmitglieder spezifische Verhaltenswei­sen zeigen. Vergleich durch Quantifizierung.

Wer zeigt sich am meisten/am wenigsten besorgt über das Verhalten deiner Schwester?
Wo würdest du das Maß der Be­sorgtheit eines jeden Familienmitglieds auf einer Skala von 1 – 10 einordnen, wenn das größtmögliche Maß an Besorgtheit 10, und gar keine Besorgtheit 0 ist?

c) Differenzierung: Fragen nach Unterschieden in Bezug auf Quantität, Qualität (mehr/weniger; eher so oder eher so?) und Zeit (vorher/nachher). Diese Art der Fragen geht von der Voran­nahme aus, daß es solche Differenzen gibt.

Mit wem spricht Deine Mutter häufiger (herzlicher) – mit der Oma oder Deinem Vater?
Wann hat Dein Bruder mehr gestottert, vor oder nach der Tren­nung Deiner Eltern?

d) Fragen, die Übereinstimmungen oder Nichtübereinstimmun­gen zwischen den Familienmitgliedern verdeutlichen.

Wer stimmt mit wem bzw. wessen Sichtweise überein?
Wer sieht es gerade entgegengesetzt?
Wer ist unentschieden zwischen verschiedenen Positionen?
Stimmen Sie der Sichtweise Ihres Mannes zu?
Erkennen Sie sich in der Beschreibung Ihrer Frau wieder?

e) Fragen, welche die interaktionelle Wirkung wichtiger Lebenser­eignisse und gravierender Veränderungen innerhalb der Familie klären.

Sie zielen besonders auf Veränderungen der Beziehungs- ­und Interaktionsmuster.
Sie konstruieren eine Historie der Fami­lie und nutzen sie als Erklärungskontext.
Was hat sich in der Beziehung Deiner Eltern durch den Tod der Großmutter verändert?

8) Fragen, die den individuellen und kollektiven Theorien, Hypothesen und Mythen, mit deren Hilfe innerhalb der Familie das Auftreten von Problemen (Symptomen) erklärt wird, gelten. In diesen Erklärungen zeigen sich die Glaubenssysteme der Fami­lie bzw. ihrer einzelnen Mitglieder.

Wie erklärt sich Ihre Frau, daß Ihr Sohn manchmal Tassen gegen die Wand wirft? …
Sehen Sie es genauso? …
Wann haben Sie begonnen, es sich so zu erklären? …
Wer sieht es noch so wie die Oma, daß er von bösen Geistern besessen ist? …
Sieht es jemand anders?«

9) Klärung individueller und familiärer Werte

Frage zu Unterschieden und Übereinstimmungen der religiösen, politischen, moralischen etc., sonstigen essentiellen Werte.

Wer außer der Mutter ist noch überzeugt, daß vorehe­licher Geschlechtsverkehr in der Hölle gesühnt werden muß?
Wen von den Eltern hat es am meisten enttäuscht, daß der Sohn wegen Drogenkonsum die Arbeit verloren hat?
Wen hat’s eher erleichtert etc.?

10) Die Eröffnung alternativer Wirklichkeiten durch hypothetische Fragen

Hierbei handelt es sich um die systematische Durchführung von Gedankenexperimenten, die Nutzung des Möglichkeitssinns. Sie können Entstehungsbedingungen familiärer Strukturen in der Vergangenheit ebenso verdeutlichen wie Phantasien (Ängste, Hoffnungen etc.) für die Zukunft. Es lassen sich nicht nur Optio­nen für die weitere Entwicklung klären, sondern auch durch hy­pothetisch eingeführte Veränderungen und Alternativen eröffnen.

Stellen Sie sich vor, in dieser Familie wären keine Kin­der geboren worden, wären dann die Eltern heute noch zusam­men?
Gesetzt den Fall, Mutter fände keine Arbeitsstelle, wie sähe dann die Familie in fünf Jahren aus?
Angenommen, es gäbe keine Therapeuten auf der Welt, was würde die Familie dann machen?
Angenommen, das Arbeitscoaching liefe optimal, wie sähe dann am Ende die Familie aus?
Wer würde was anders machen?
Angenommen, der Sohn würde sich entschließen, sich eine Freundin zu suchen und demnächst aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, was würde die Tochter dazu sagen?

11)  Die Unterscheidung von Bedeutungen

gemäß der semantischen Dimensionen
»gut« und »schlecht«,
»aktiv und passiv,
»stark« und »schwach«

Es wird hinterfragt, wie innerhalb der Familie einzelne Verhal­tensweisen den genannten drei Gegensatzpaaren zugeordnet wer­den. Verdeutlicht wird dadurch die Definition von Werten und Beziehungen sowie die Zuschreibung von Täter- und Opferrol­len.

Wenn der Bruder bis mittags im Bett liegen bleibt, ob­wohl die Mutter den ganzen Vormittag versucht, ihn zum Aufste­hen zu bewegen, sieht sie ihn dann eher als stark oder schwach an?
Wie sieht sie sich selbst? Bleibt der Sohn im Bett liegen, weil er will (aktiv) oder weil irgend etwas ihn dazu zwingt (passiv)?
Wann würde die Mutter eher glauben, etwas falsch/richtig zu machen, wenn sie versucht, den Sohn aus dem Bett zu bringen, oder wenn sie ihn liegen läßt?

12) Die Klärung der Bedeutung von »Krankheit« für die Interaktion

Dieser Fragenkomplex richtet sich, auf die innerfamiliäre Bedeu­tung des Symptomverhaltens. Wird dieses Verhalten als eigenver­antwortlich angesehen? Gilt derjenige, der es zeigt, dabei als han­delnd? Geht man davon aus, daß er sich entscheidet, sich so zu verhalten? Gilt er eher als aktiv handelnd oder eher als passiv leidend? Wem wird Verantwortung (d. h. Schuld) dafür zuge­schrieben?

Wer in der Familie denkt, wenn Vater eine neue Flasche Schnaps aufmacht, er könnte es auch lassen? Wer fühlt sich ver­antwortlich dafür?
Angenommen, der Sohn wollte der Mutter Schuldgefühle ma­chen, würde er das schaffen, wenn er wieder erzählt, daß er Stim­men hört?
Gesetzt den Fall, die Tochter würde sich ganz genau so verhalten wie jetzt, aber die Eltern wären sicher, daß sie nicht krank ist, wie würden sie sich dann verhalten?


Durch die Anwendung dieser Fragetypen, die sich beliebig mit­einander kombinieren lassen, erhält man als Antworten eine Sammlung von Aussagesätzen, welche die Spielregeln der familiä­ren Interaktion bzw. die Regeln, nach denen irgendwelchen Ver­haltensweisen eine Bedeutung gegeben wird, beschreiben. Über­prüft man, in welcher logischen Beziehung diese Aussagesätze zueinander stehen, so zeigen sich sowohl die Konsistenzen (dicht, beständig, logisch, im Zusammenhang, widerspruchslos), als auch die Inkonsistenzen der Organisation des jeweiligen Systems.

Auf der individuellen Ebene ist die Konsistenz oder Inkonsistenz des Denkens und Fühlens.

Das Korrelat dazu auf der familiären Ebene die Konsistenz oder Inkonsistenz der Interaktionsregeln.


Siehe Fritz B. Simon: Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie: Grundlagen einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. S. 277 ff