Trauma, Traumatisierung

Auf der Wikipediaseite https://de.wikipedia.org/wiki/Trauma_(Psychologie) findest Du zu diesem Thema eine gute Kurzbeschreibung, die viele Aspekte enthält.

Ich möchte Euch heute erläutern, was sich bei einem Trauma im Gehirn abspielt – wieder in einer prägnanten Kurzfassung, gedacht als Grundlage. sich selbst weiter auf die Gehirnspur machen zu können.

Wir haben schon die reguläre Weise kennengelernt, wie das Gehirn Informationen verarbeitet:

  • Infos kommen an in der Eingangspforte / Telefonzentrale: Thalamus.
  • Der Thalamus zerlegt die Infos in
    • Kognitionen
    • Affekte (ich/wir unterscheiden zwischen Affekt = emotionale Reaktion auf ein aktuelles Geschehen und Emotion = eine Art Grundstimmung/Gefühl am Tag)
  • und schickt die Kognitionen weiter an den Hippocamous, unserem Topf mit dem Kurzzeitgedächtnis und gleichzeitig unserem Lernorganisator, und er sendet die Befindlichkeit an die Amygdala, die mit dem Präfrontalen Cortex klärt, wie die Infos in der Gesamtheit auf der Großhirnrinde abgespeichert werden sollen.

Bei einer Traumatiserung gelingt diese regelhafte Verarbeitung und Abspeicherung nicht. Ich biete Euch und unseren Ratsuchenden die folgende Definition eines Traumas an (sie ist nicht perfekt und komplett, ist aber aufgrund ihrer reduzierten Komplexität leicht verständlich)

Merksatz: Ein Trauma passiert in einer Situation, in der zu viele Informationen in einem zu kleinen Zeitfenster mit existentieller Bedeutung auf das Gehirn einprasseln, so daß es zu einem Systemabsturz kommt und die Infos nicht regulär verarbeitet und abgespreichert werden können.

Ein Beispiel: Man fährt auf der Autobahn so vor sich, vor sich hin, vor sich hin. Hört Radio. Ist mit den Gedanken ganz woanders. Man ist aufmerksam, jedoch nicht vorbereitet auf etwas, das man noch nie erlebt hat. Es kommt zu einer Massenkarambolage. Man fährt vorne jemand drauf. Hinten fährt einem jemand anderes drauf. Es kracht. Es stinkt nach verbranntem Reifengummi und Benzin. Man ist unverletzt, hängt aber überm Lenkrad und weiß nicht, wie einem geschah … …. …. bis jemand an die Seitenscheibe haut und schreit: Los komm raus da!

Abends zu Hause. Man erzählt. Bruchstückhaft. Kann sich nur an Splitter erinnern. Es wird nachgefragt, aber man weiß es nicht. Kleine Verzweiflung stellt sich ein. Die Erinnerung, das Gedächtnis spielt Streiche. Es gibt Lücken.

Wochen später: Man sitzt vor den Fernsehnachrichten. Es wird von einem chaotischen Ferienreisebeginn auf den Autobahnen berichtet. Massenweise, zum Teil schwere Unfälle. Fast beiläufig entsteht ein beißender Gummigeruch in der Nase. Nur für 1 Sekunde. Ein Bild von einer Verletzten blitzt auf und ist wieder weg. Man meint, es hätte gekracht – hat es aber nicht.

Was ist passiert im Gehirn? Während des Unfalls kam es in einem zu kleinen Zeitfenster mit zu vielen (plötzlich aufgetretenen) Informationen in einer lebensbedrohlichen Situation zu einem Systemabsturz* in der Kette Thalamus-Hippocampus-Amygdala, so daß die Informationsverarbeitung zusammenbrach.

Trotzdem suchten sich die wahrgenommenen Informationen einen Weg ins Gehirn, indem sie als Bruchstücke, als Splitter, irgendwo auf der Großhirnrinde hier und da und dort und anderswo abgespeichert wurden – ohne zusammenzuhängen! Denn der Hippocampus wurde mit seiner regelhaften Verarbeitung umgangen und konnte keine Inhaltsverzeichnisse über das Geschehen anlegen, so daß eine retrospektive Erinnerung nicht möglich ist. Diese geschieht ähnlich einem Blitzlicht oder sich entladendem Gewitter nur in unwillkürlich auftretenden Assoziationen anläßlich bestimmter Wahrnehmungen, z. B. Fernsehbericht.

Nun strebt unser Gehirn aber nach Konsistenz. (siehe Konsistenztheorie Klaus Grawe) Es strebt nach logischen Zusammenhängen und Vollständigkeit, es möchte verstehen. Wenn wir etwas nicht verstehen, wenn etwas offen bleibt, dann rumort es in uns. Du kennst den Zustand bei einer Wortfindungsstörung: Verdammt, wie heißt das nochmal? Ich komme einfach nicht drauf. Du kennst diesen (ungeduldigen) Zustand! Bezogen auf den o. g. konstrukierten Unfall würde dies bedeuten, das komplexe Geschehen in einem lebensbedrohlichen zu kleinen Zeitfenster hat Gesächtnislücken hinterlassen, die es einem nicht möglich machen, das gesamte Geschehen in allen Zusammenhängen zu erinnern. Diese Erinnerungssplitter turnen nun zusammenhanglos in unseren Gehirn herum und werden immer wieder durch bestimmte Wahrnehmungen, die tagtäglich auf uns einströmen, aktiviert, aber mit nichts in Zusammenhang gebracht. Wir, das heißt unser Gehirn, leben in einem fortwährenden inkonsistenten Zustand. Das bedeutet für das Gehirn Streß. Streß bedeutet Aktivierung und Ausstoß von Streßbotenstoffen: es kann eine Posttraumatische Belastungsstörung PTBS entstehen.

Morgen geht es weiter, denn es gibt noch eine andere bedeutsame Variante von Traumatisierung.


* Beim Begriff Systemabsturz fallen mir in einem ganz anderen Zusammenhang die beiden Romane von Graeme Simsion „Das Rosie Projekt“ und „Der Rosie Effekt“, in denen der Protagonist, ein Mann mit Asperger, gelegentliche Systemabstürze erleidet.