Theoriebildung – Geschwisterpositionen I
Ob man als erstes oder zweites Kind oder als Nesthäkchen geboren wird, hat weitreichende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung. Die Berufswahl, die Beziehung zum Ehepartner, und der Umgang mit den eigenen Kindern wird entscheidend davon beeinflußt. Die Position in der Geschwisterreihenfolge ist bedeutsam, weil ihre Auswirkungen in besonders prägsamen Entwicklungsphasen für Kinder spürbar sind. Je jünger wir sind, um so weniger sind wir in der Lage, Informationen und Feedback rational zu verarbeiten. Dies hat zur Folge, dass die damit einhergehenden Empfindungen wenig kommunizierbar sind bzw. als „normal“ wahrgenomen werden – „So ist es halt.“ – und eine Bestätigung oder Abwertung des Selbstbildes bedeuten können, z. B. „Ich bekomme weniger Zuwendung als meine Schwester, weil sie wichtiger, wertvoller, besser… ist als ich.“
Die folgenden Aussagen stellen lediglich Orientierungen im Sinne von Hypothesen dar. Sie dürfen nicht verallgemeinert werden oder gar unüberprüft als Beratungsgrundlage dienen! Vielmehr stellen Sie mögliche Aspekte einer Wirklichkeitskonstruktion dar, deren (Nicht-) Übereinstimmung immer im Dialog mit den Klienten überprüft werden sollte.
Erstgeborene / älteste Kinder
- leiden unter Erfahrungsmangel (Erziehung) der Eltern ?
- neigen zu Ehrgeiz und Perfektionismus ?
- neigen zur Überforderung ?
- haben ein gesundes Selbstbewusstsein ?
- erleiden ein „Trauma“ wenn sie durch das Folgegeschwister ihre Prinzen-/Prinzessinnnenrolle verlieren ?
- sind manchmal überhaupt nicht strebsam, weil sie die gewünschte Anerkennung oder Zuwendung im Übermaß bekommen ?
- übernehmen manchmal Erziehungsaufgaben? (ein Aspekt von Parentifizierung)
- wird wahrscheinlich ein starkes Verantwortungsgefühl, Gewissenhaftigkeit und Fürsorglichkeit haben. Verantwortlichkeit auch für das Wohlergehen der Familie; Fortführen der Familientradition.
Zweitgeborene/Mittelkinder
- stehen in Rivalität mit dem Erstegborenen; diese Rivalität relativiert sich etwas, wenn Erst- und Zweitgeborene(r) unterschiedlichen Geschlechts sind, weil Mädchen und Jungen unterschiedliche Interessen haben ?
- können die Prinzessinnen-/Prinzenrolle einnehmen, wenn sie das „gewünschte“ Geschlecht haben, während der/die Erstgeborene anderen Geschlechts ist ?
- beklagen sich darüber, daß sie – im Gegensatz zum ältesten und jüngsten Kind – wenig erfahren haben, etwas Besonderes zu sein ?
- entwickeln besondere Fähigkeiten, mittels derer sie sich zu profilieren suchen ?
- fühlen sich wie das 5. Rad am Wagen ?
- gehen eher aus dem Haus als Erstgeborene ?
- haben die Rolle des scharzen Schafes ?
- entwickeln sich zum Gegenteil des älteren Geschwisterteils ?
- haben das Gefühl, jede(r) rede ihnen in ihr Leben rein ?
- versuchen, ihre wahren Gefühle zu verbergen ?
- können sich in einem Zwischenstatus gefangen fühlen, haben das Bedürfnis, ihre eigene Nische zu finden und sich abzugrenzen. Genießen auch manchmal ihre relative Unsichtbarkeit. Stehen weniger unter Druck, Verantwortung übernehmen zu müssen. Strengen sich aber mehr an, eine „Marke“ zu setzen, um wahrgenommen zu werden.
Also Ambivalenz zwischen Unsichtbarkeit genießen und leiden, nicht gesehen zu werden, was die Identitätsfindung nicht einfach macht.
jüngste Kinder/Nesthäkchen
- sind sorglose, unterhaltsame und lebhafte Charmeure, die wegen ihrer geselligen, unbeschwerten Art von allen gemocht werden ?
- haben das Gefühl, von ihrer Familie (und später von ihrer Umwelt) nicht ernst genommen zu werden ?
- werden zwiespältig behandelt: Erst werden sie liebkost und gehätschelt und im nächsten Augenblick können sie verspottet und herabgesetzt werden (haben Blitzableiterfunktion für den Frust der Älteren) ?
- fühlen sich hin- und hergerissen ?
- leben im Schatten der Älteren Geschwister und haben nichts Neue/Originelles mehr zu zeigen – alles ist schon mal dagewesen ?
- versuchen, Eltern mit zweifelhaften Abenteuern und gefährlichen Streichen in Erstaunen zu setzen, um ihre Originalität zu beweisen ?
- übernehmen weniger Verantwortung für ihr Denken und Handeln, weil sie in ihrer Erziehung weniger Konsequnz erfahren haben ?
- sind Weltmeister im „Sich-drücken“ ?
- versuchen, (althergebrachte) Regeln außer Kraft zu setzen ?
- hat häufig das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, was das Selbstbewußtsein stärkt ohne mit besonderer Verantwortung belastet zu sein. Haben häufig das Gefühl, alles schaffen zu können. Fühlen sich sorgenfreier und leichter damit zufrieden, einfach nur Spaß zu haben, ohne ständig Leistung zeigen zu müssen. Oft aber auch verwöhnt und selbstzentriert; der Anspruch auf Sonderbehandlung kann zu Enttäuschungen und Frustrationen führen.
Wenn die älteren Geschwister schon das Haus verlassen haben, kann das jüngste noch mal den Status eines Einzelkindes genießen. Die alleinige Aufmerksamkeit der Eltern kann aber auch den Preis des Gefühls haben, von den Geschwistern allein gelassen worden zu sein.
Einzelkinder
- weisen Merkmale von Erstgeborenen auf ?
- leiden an den überhöhten Erwartungen ihrer Eltern an den einzigen Nachkömmling ?
- stellen eine interessante Mischung aus Erstgeborenen und Nesthäkchen dar ?
- leiden an Vorurteilen: gelten als verzogen, egozentrisch und wenig beziehungsfähig ?
- haben engere oder liebevolle Beziehungen zu Eltern (sind nie enttront worden) ?
- sind gebildeter und intelligenter als Geschwisterkinder; werden finanziell und ideell von den Eltern besser unterstützt ?
- sind altklug – bekommen mehr Erwachsenenthemen mit und messen sich – mangels Geschwister – mit Erwachsenen (i.d.R. Eltern) und werden als kleine Erwachsene behandelt ?
- sind interessiert an kleineren Freundeskreisen und bemühen sich um intensive, dauerhafte Beziehungen ?
- Vereint das Verantwortungsgefühl eines ältesten als auch die Überzeugung der eigenen Besonderheit eines jüngsten Kindes. Neigen dazu, sich an den Erwachsenen zu orientieren und deren Liebe und Zustimmung zu suchen. Wenn der Anschluß an eine Peergroup zu kurz kommt, ist es nicht einfach mit Gleichaltrigen eine enge Beziehung einzugehen. Dafür oft lebenslange enge Bindung an die Eltern.
Zwillinge
- Zwillingsgeburten nehmen zu, u. a. als Folge der Zunahme an künstlichen Befruchtungen.
- Eine von 8 Schwangerschaften beginnt als Zwillingsschwangerschaft. Eine von 50 erwachsenen Personen hat einen noch einen lebenden Zwilling.
- Zwillinge haben natürlich eine besondere Verbindung, eineiige meist noch stärker.
- Besondere Herausforderung ist, eine individuelle Identität zu entwickeln.
Unterschiedliche Rollen von Brüdern und Schwestern
- Jungen werden in der Regel bevorzugt.
- Die Bedürfnisse von Mädchen erhalten nicht die gleiche Aufmerksamkeit.
- Jungen neigen dazu, Mädchen zu ignorieren oder abfällig zu behandeln.
- Ein älterer Bruder wird von der Schwester häufig verehrt,
- ein jüngerer Bruder eher beneidet und abgelehnt.
- Schwestern übernehmen häufig Fürsorge füreinander und ihre Brüder, sind aber auch Konkurrentinnen und rivalisieren um die elterliche Aufmerksamkeit.
- Konflikte zwischen Frauen sollten darauf hin hinterfragt werden, wer davon profitiert, wenn Frauen einander keine Verbündeten sein können.
In Zwei-Kinder-Familien gibt es eine(n) Erstgeborene(n) und ein Nesthäkchen. Hier gibt es mitunter besondere Rivalität, besonders wenn die Geschwister gleichen Geschlechts sind. Diese Merkmale können sich verändern, wenn eine Kinderpause von 4 – 5 Jahren entsteht. Dann werden z. B. die Nachzügler u. U. wieder wie Erstgeborene behandelt oder die Position des mittleren Kindes kann sich verändern, wenn das ältere Geschwister aus dem Haus geht.
Im nächsten Beitrag beschäftigen wir uns zum Thema Geschwisterpositionen mit ihren Auswirkungen auf helfende Berufe, Partnerwahl und Elternrollen.
Literatur
Kevin Leman. Geschwisterkonstellationen. Die Familie bestimmt Ihr Leben. München 2001
Walter Toman. Familienkonstellationen. Ihr Einfluß auf den Menschen. München 1965 / 2020
siehe dazu online: https://www.sgipt.org/gipt/diffpsy/cst/tgk_cst.htm
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